Der alexandrinische Bischof Athanasius († 373) gehört zu den prägenden Gestalten in der Kirchengeschichte des 4. Jahrhunderts. Als »Leuchte der Orthodoxie« im trinitarischen Streit rankten sich um seine Person schon bald zahlreiche Legenden. Seine Schriften erhielten nahezu kanonischen Rang. Unter seinem Namen sind in den drei großen spätantiken und mittelalterlichen, in Handschriften überlieferten Sammlungen seiner Werke auch 19 Schriften überliefert, die nach dem heutigen Stand der Forschung nicht von ihm verfaßt worden sind. Diese Pseud-Athanasiana wurden von den Zeitgenossen jedoch als »echte« autoritative Texte rezipiert und haben sowohl das Bild des Athanasius als auch den Gang der Kirchengeschichte mitbestimmt.
Das vorgeschlagene Projekt erstellt die erste systematische kritische (und digitale) Edition und Kommentierung dieses signifikanten Ausschnittes aus dem weit größeren pseudepigraphen Korpus einer bedeutenden spätantiken Persönlichkeit, die bei der Rezeption der antiken christlichen Tradition während des Mittelalters und der frühen Neuzeit in der byzantinischen, lateinischen und christlich-orientalischen Kultur eine herausragende Rolle gespielt hat.
Mit der Feststellung von pseudepigraphen Schriften in den Athanasius-Sammlungen verbindet sich die Frage nach deren historischen Verfassern. Die Forschung der letzten hundert Jahre hat teilweise bedeutende, aber später als Häretiker verurteilte Theologen des 4. Jahrhunderts vermutet. Ohne angemessene Edition und damit verbundene Echtheitsanalysen musste dies aber vorläufig bleiben. Im vorgeschlagenen Projekt werden valide Kriterien für die Verfasserfrage erarbeitet. Dadurch werden sowohl Sprache und Theologie des historischen Athanasius mit bisher nicht erreichter Sicherheit bestimmbar als auch bisherige Unechtheitserklärungen und Zuschreibungen an andere Autoren überprüfbar. Auf dieser neuen Grundlage sind die spezifischen Konzepte von wichtigen Theologen wie Markell von Ankyra und Apolinaris von Laodikeia neu beschreibbar und in ihrer kirchengeschichtlichen Wirkung fassbar. So ermöglicht das Editionsprojekt einen Einblick in das literarische Verhältnis von Athanasius zu anderen christlichen Autoren der Spätantike und über die Formierungsprozesse autoritativer Textsammlungen exemplarische Einsichten in den sonst oft schwer zu erhellenden Zusammenhang von Orthodoxie/Häresie, Pseudepigraphie und Autorität in den Diskursen des 4.-9. Jahrhunderts. Die Repräsentation der Gestalt des Athanasius in Sprachen aus Orient und Okzident macht ihn insbesondere auch auf der Ebene der Sammlungstexte zu einem europäischen wie ökumenischen Kirchenvater. Die Überlieferungssituation der einzelnen Texte lässt so Rückschlüsse auf Verflechtungen des sich formierenden Europa mit dem christlichen Orient zu und bietet damit ein hoch interessantes Beispiel für die ambivalente Kommunikationssituation konvergierender und zugleich divergierender Kulturen.
Eine für diese Texte erste modernen Ansprüchen genügende kritische Edition lässt somit neue Erkenntnisse über die Geschichte des Christentums in seinen kulturellen Kontexten, vor allem eine Neubewertung des für Spätantike und Mittelalter wichtigen Phänomens der Pseudepigraphie erwarten. Die systematische Erschließung dieser pseud-athanasianischen Schriften ermöglicht darüber hinaus eine umfassende Evaluierung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Person und Werk des Athanasius von Alexandrien in Spätantike und Mittelalter.
Ediert werden die folgenden Schriften: